Anja (35)PR-Referentin

Chronik einer Fehlgeburt

Anja hatte vor ihrer Tochter ein Windei. Daraufhin bekam sie ihre Tochter, M., für die sie sich so sehr ein Geschwisterkind wünscht. Der Weg dahin war wegen einer Kinderwunschbehandlung schon nicht leicht. Die Fehlgeburt ist es erst recht nicht. Ihre Trauer darüber hat sie in Tagebucheinträgen festgehalten.

2. Mai
Es könnte vielleicht doch… Einige Symptome sind jedenfalls da. Das Brustspannen hört nicht auf und wird oft abends unerträglich. Ziehen links und rechts seitlich und in der Leiste. Hitzegefühl am Abend. Seitenstechen hin und wieder, auch ohne Anstrengung. Noch keine Periode (+2). Ich traue mich noch nicht, einen Test zu machen. Aber so langsam wird es realer und in meinem Kopf geht das Karussell los. Große Freude vs. Große Angst. Aber wir sind ja nicht allein. So stressig es wird, ich würde alles gerne nochmal erleben – mit meiner M. als große Schwester!

26. Mai
Ich bin in der 8. Woche und war drei Wochen lang voller froher Hoffnung. Heute tiefes Loch. Keine Herztöne. Fetus zu klein, vermutlich vor einer Woche gestorben. Ich habe nichts gemerkt. Ich merke noch immer nichts. Fühle nun auch nichts mehr. Bin leer und bin es doch nicht. Am 2. Juni soll Ausschabung sein. Nochmal, wie vor 7 Jahren… ich kann nicht mehr. Habe keine Kraft für das alles. Wie soll ich das nur schaffen???

27. Mai
Ich komme in der Realität an. Aber der Schmerz bleibt. Er kommt wellenartig und dann mit voller Wucht und immer wieder die Frage nach dem „Warum“? „Warum ich?“ „Warum ich schon wieder?“ M. fordert mich sehr und versteht nicht, warum ich immer noch traurig bin. Die Fahrt in die Heimat tut gerade gut, aber es ist auch eine Art Flucht. Zurückkehren werde ich an meinem 1. Hochzeitstag, der doch irgendwie auch anders hätte werden sollen. Die OP sitzt mir im Nacken. Wenn es doch nur die nächsten Tage von selber abgehen könnte. Ich würde es als eine Art „Reinigung“ empfinden. Aber da deutet sich leider gar nichts an. Im Gegenteil. Die Brüste schmerzen wie eh und je und der Schlaf fühlt sich stark hormonell gesteuert an. Ich würde so gerne loslassen und wünschte mein Körper würde einfach mitziehen.

29. Mai
Es wird nicht einfacher, aber jeden Tag ein Stück realer. So langsam glaube ich, dass auch mein Körper merkt, dass da etwas nicht stimmt. Die OP werde ich dennoch machen. Der Cut wird hart, aber danach lebe ich nicht mehr in dem Schwebezustand und kann einen Neuanfang, so schwer er sein mag, zulassen. Denke darüber nach, mit Fruchtbarkeitsyoga anzufangen. Um meine Seele und meinen Körper zu stärken. Die Hoffnung ist noch nicht ganz zurück. Aber warum sollte sie ganz weg sein? Es hat ja geklappt, nur eben nicht bis zum Schluss.
(später am Tag)
Wann habe ich dich verloren? Hast du mir ein Zeichen gegeben und ich habe nichts bemerkt? Bist du auf dem Regenbogen am 26.05. abends nach oben geflogen? Ich konnte ihn mir nicht anschauen, aber dein Papa hat ihn beschrieben und ich musste sofort an dich denken. Der Schmerz saß so tief. Was wärst du geworden? Ich glaube eine kleine Schwester für M. Es fühlte sich alles so ähnlich an, so normal, zu normal? Was habe ich denn falsch gemacht? Ich wüsste so gerne, warum du gehen musstest. „Die Natur“ ist für mich keine Erklärung. Wie soll ich diese Warterei nur überstehen? Die Monate kommen mir vor wie Jahre und jedes Mal sehe ich im Spiegel etwas älter aus. Ich fühle mich so schwach, so voll und doch so leer, zart und doch schwer und träge… wie gerne würde ich mich bewegen wie ein Kind, aber mir fehlt jegliche Leichtigkeit.

30. Mai
Habe geträumt, dass M. als einziges Kind demnächst den Kindergarten wechseln muss. In irgendeine Einrichtung weit weg von uns. Habe den ganzen Kindergarten zusammengeschrien und geweint und konnte mich nicht mehr beruhigen. Im Nachhinein ist es dieses Ausgeliefertsein, das ich fühle und das sich im Traum spiegelt. Habe mich selten in einem Traum so allein, isoliert, beobachtet und ausgeliefert gefühlt. Ein furchtbares Gefühl, dass ich im Grunde genau so empfinde. Ich kann immer noch nicht glauben, was die Ärztin uns am 26. Mai um 10 Uhr gesagt hat. Es wäre alles einfach zu schön gewesen. Ich fühle mich so allein. In meinem Bauch und um mich herum herrscht Leere und dabei sollte doch gerade da die größte Fülle und Geborgenheit sein. Warum ich? Schon wieder? WARUM? Es tut so weh. Vor allem, wenn alle Welt so tut, als wenn nix wäre. (*bei meiner Mutter/Familie).

5. Juni
Wo soll ich anfangen? Es tut phasenweise noch so so weh, dass ich keine Worte habe. Ich frage mich, ob alles nur ein (böser) Traum war? Der positive Test? Die Hoffnung? Der sich verändernde Körper? Die Tage, als ich mit N. und K. über alles gesprochen habe? Das Tagebuch, das ich gekauft habe? Das Geschwisterbuch, das ich im absoluten Glauben und Hoffen gekauft habe, und nun in der hintersten Ecke des Schrankes liegt. WARUM? Ich könnte nur heulen und Löcher in die Luft starren. Habe keinen Hunger mehr, keinen Appetit, kein Gefühl für meinen Körper. Alles fühlt sich so falsch an, weil im Nachhinein alles so falsch war. Nur DU warst echt. Aber fast niemand weiß von dir. Bevor du da sein konntest, warst du schon wieder weg. Du konntest noch nicht zu uns kommen. Es gibt Gründe oder auch nicht. Auf jeden Fall wird die Reise immer länger…

8. Juni
So langsam kehrt Leben in mir zurück. Ohne ein weiteres Leben zunächst, aber mit Energie. Mein Körper fühlt sich mehr und mehr wie meiner an. Der Schmerz wird jeden Tag etwas weniger. Morgen vor 2 Wochen war DER Tag beim Frauenarzt… damit entferne ich mich auch mehr und mehr von den bewussten Wochen der Schwangerschaft. Bis die Gedanken daran irgendwann wie ein hellgrauer Schimmer am Himmel erscheinen.

25. Juni

Die Erinnerung verblasst etwas, wobei ich in Gedanken immer wieder das Bild im Ultraschallgerät vor mir sehe und ausmale, wie es hätte werden können, wenn, ja wenn…
Nun ist alles „wie immer“, wie es immer war. Man spricht nicht darüber (ist ok), und dennoch habe ich heute so gedacht, dass ich nun bald 3 Monate keine Blutung mehr hatte. So normal ist dann doch wieder nicht. Es hätte so wunderbar sein können. Nun ist es anders und ich muss damit leben lernen. Wieder. Das WARUM bleibt. Das WARUM ICH auch. Das WARUM SCHON WIEDER auch.

Du warst vielleicht noch nicht mein Kind, aber dennoch etwas ganz Warmes, Tiefes, Kribbeliges, Schönes, Helles, ein großes, klitzekleines WUNDER! Wenn ich mal Sterne sehe, suche ich dich. Ja? Wenn die Zeit soweit ist und du (und wir) wieder bereit sind für ein neues Abenteuer-Wunder… meinst du, du könntest uns ein Regenbogen-Geschwisterchen schicken? Unser Glück hier ist vielleicht auch dann nicht vollkommen, aber es käme dem schon sehr nah. Und ich, ich würde ehrlich an Wunder glauben und mir sicher sein, dass es dir da oben in der Welt der Sterne gut geht. Deine Mama

Das Ende vom Anfang – Anja
Anja (35)PR-Referentin

Ich bin 35 Jahre alt und habe eine 6-jährige Tochter. Der Wunsch nach einem Geschwisterkind war aber immer da und ist mit der Zeit stärker geworden. Nach langem Überlegen haben wir uns aufgrund einer inzwischen geheilten Krebserkrankung meines Mannes für eine Samenspende und Insemination entschieden. Es hat direkt beim ersten Versuch geklappt. Leider ist die Geschichte nicht gut ausgegangen. Wir versuchen es weiter, hatten zwischendurch eine längere Pause. Bisher hat es noch nicht geklappt. Aber ich gebe die Hoffnung (noch nicht) auf.

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Die Trauer kommt in Wellen

Am 24.02.2021 veröffentlicht.
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Am 28.03.2021 veröffentlicht.