Marleen (32)Gynäkologin

Auf einmal selbst betroffen

Marleen ist Assistenzärztin in der Gynäkologie und Geburtshilfe und begleitete viele Frauen mit Fehlgeburten. Seitdem sie selbst von einer Eileiterschwangerschaft betroffen war, gibt sie ihren Patientinnen mit ähnlicher Geschichte noch mehr Raum.

Bis ich realisierte, dass ich schwanger war, also Leben in mir trug, war ich schon wieder einen Tag zuhause. Aber von vorne.

Seit November bin ich Ärztin. Seit Januar arbeite ich in der Geburtshilfe in einer hessischen Uniklinik. Ich wusste von Semester 1 an, dass ich mich später in Gynäkologie und Geburtshilfe spezialisieren möchte. Schon vor dem Studium betreute ich Freundinnen rund um Verhütung, Kinderwunsch, Geburt und Wechseljahre.

Ich tröstete die letzten Jahre viele Freundinnen mit unerfülltem Kinderwunsch, Fehlgeburten, traumatischen Geburten.

Meine Mutter machte mir früh klar: Das Frauenleben kann hart und ungerecht sein. Eine Fehlgeburt gehört genauso dazu wie gut ausgehende Schwangerschaften.

Ich fand das damals realistisch formuliert. Hart ist jedes einzelne Schicksal dann trotzdem und genauso individuell der Umgang damit. Während der Assistenzarzt-Zeit durfte ich bereits viele Frauen bei (Spät-)Aborten begleiten - Von der Sternenkind-Mama, die zuhause Bilder des toten Kindes aufstellt bis hin zur Mutter, die sich für ihre Familie ein beeinträchtigtes Kind nicht vorstellen kann und damit sehr neutral & zielgerichtet umgeht. Keine Art und Weise ist richtig oder falsch, nur individuell. Ich habe mich oft gefragt, wie ich in so einer Situation reagieren würde und hatte immer die Worte meiner Mutter im Ohr "... Es gehört zum Frauenleben dazu." - Wie man tatsächlich reagiert, weiß man vorher nicht. Ich sollte es im Mai 2020 erfahren.

Mein letzter Zyklus war eigentlich wie immer - in der Woche vor meinen Tagen begannen PMS-Symptome mit Brustspannen und Wesensveränderungen. Ich war sehr "dünnhäutig", müde und weinte schnell bei der kleinsten Kritik, war schlecht gelaunt, wenn etwas nicht so ablief wie ich plante. Dann waren die Tage überfällig. Ich testete zweimal negativ bis am 3. überfälligen Tag Blutungen einsetzten - Periodenstark, 4 Tage lang. An "Zyklustag 9" begannen plötzlich wieder Blutungen, diesmal anders. Ich tippte auf Zwischenblutungen oder leichte hormonelle Störungen und wartete zunächst ab. An "Zyklustag 12" begannen rechtsseitige Unterbauchschmerzen, die allerdings aushaltbar waren. Am nächsten Tag stellte ich mich während der Arbeitszeit bei Kolleginnen vor, wir vermuteten eine hochgestiegene Infektion, nahmen Entzündungs- und Hormonwerte ab. Nachmittags beim Schreiben von Arztbriefen aktualisierte ich meine Laborwerte, als mich meine Kollegin drauf hinwies doch auch mal b-HCG nachzufordern, "man wisse ja nie". Und dann ploppte es auf: 919. 919! Die vermeintliche Periode war eine Einnistungsblutung. Ich war also schwanger. Irgendwo in meinem Körper. Ich merkte allerdings ganz eindeutig, dass mit dieser Schwangerschaft irgendetwas nicht stimmte.
Danach folgten zahlreiche Ultraschall-Untersuchungen. Abwarten. Dann Gewissheit: Eileiterschwangerschaft. Aufklärung für die OP. Ich beendete daraufhin noch meine Stationsarbeit, begab mich dann aufs Patientenzimmer und wurde zur OP abgeholt.

Einen Tag später durfte ich schon nach Hause. Da lag ich dann auf dem Sofa und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich fing an, Erfahrungsberichte in Foren und bei Instagram zu lesen. Ich empfand mich irgendwo in einem dumpfen Graubereich zwischen Patientin und Ärztin. Es dauerte einen Tag bis ich beim Duschen und Pflasterentfernen im Bad emotional zusammen brach. Bis dahin habe ich nur versucht, die "Pathologie" dahinter zu sehen.

Jetzt vier Monate später als Patientin mit vernarbtem Eierstock rechts halte ich in jeder Eisprungzeit die Luft an. Einerseits vor Schmerzen, andererseits vor Angst. Angst, dass das alles nochmal passieren könnte.
Jetzt vier Monate später als Ärztin kämpfe ich noch mehr als früher gegen die Tabuisierung von Fehlgeburten. Ich versuche in der Klinik bei der Anamnese herauszuhören, inwieweit die Patientin darüber reden möchte. Ich versuche ihr Raum für das zu geben, was sie möchte - Schweigen oder Erzählen. Wenn eine Patientin nach einer Eileiterschwangerschaft vor mir sitzt, beginne ich von meiner zu erzählen. Das schockiert einige im ersten Moment. Im zweiten Moment bemerke ich oft eine Art Aha-Erlebnis. Aha, auch Ärztinnen haben "Probleme", schwere Schicksale. Und es ist vollkommen okay, darüber zu reden.

Die Botschaft sollte sein: Wir sind nicht allein. Wir dürfen darüber reden. Wir sollen sogar darüber reden, wenn es uns gut tut.

Das Ende vom Anfang – Marleen
Marleen (32)Gynäkologin

Ich bin 32 Jahre alt und lebe in Darmstadt. Ich habe nach meinem Diplom in Biologie das Medizinstudium dran gehängt, weil das immer mein großer Traum war. Leider bin ich bereits nach 9 Monaten Assistenzarzt-Dasein im Krankenhaus desillusioniert, was die empathische Versorgung in der Frauengesundheit angeht.
Ansonsten jogge und crossfitte ich in meiner Freizeit, das bringt mich am besten wieder runter nach einem harten Arbeitstag. Und meine schwangeren Freundinnen sind ebenfalls mein Hobby.

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Zwei Fehlgeburten und zwei Gebärmütter

Am 23.09.2020 veröffentlicht.
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Kein Happy End nach sechs Fehlgeburten

Am 05.10.2020 veröffentlicht.