Aljona (34)Softwareentwicklerin

Eine kleine Geburt als selbstbestimmter Weg.

Aljona, Mutter einer Tochter, hatte die Diagnose Missed Abort aus der Bahn geworfen. Der Verlust war noch heftiger, als sie es sich je ausgemalt hatte. Nach einigen Tagen voller Trauer stand für sie die Entscheidung fest: Es sollte eine kleine Geburt mit medikamentöser Einleitung werden. Für Aljona war dieser selbstbestimmte Weg wichtig. Die Beratung und Hilfestellung durch Praxis fand sie dagegen wenig differenziert.

Als ich zum zweiten Mal einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt, war die Geburt unserer Tochter bereits sechs Jahre her. Über Wochen war mir übel, ich war ständig erschöpft, hatte regelmäßig ein Ziehen im Bauch. All das kannte ich schon von der ersten Schwangerschaft und deutete es als gutes Zeichen. Der Termin bei meiner Frauenärztin stand erst in der 9. SSW an. Bis dahin hoffte und bangte ich, traute mich einerseits nicht so recht, mich zu freuen, denn zu unwirklich schien alles ohne einen Ultraschall. Andererseits schmiedete ich gedanklich schon erste Pläne und malte mir aus, wie das Leben mit Kind Nummer Zwei wohl sein würde.

„Tut mir leid, ich kann keinen Herzschlag finden“ – ein Satz, der mir den Boden unter den Füßen wegriss. Diagnose: Missed Abortion.

Das Kind in meinem Bauch lebte nicht mehr, doch mein Körper hatte nichts davon bemerkt und war weiterhin auf Schwangerschaft eingestellt. Mit einem Augenblick war eine ganze Zukunft zunichte gemacht. Tränen liefen mir über das Gesicht, ich spürte die Hand meines Partners auf meiner Schulter, hörte die Erklärungen der Frauenärztin, doch ihre Worte erreichten mich nicht wirklich. Ich stand völlig unter Schock.

Wie im Autopilot stieg ich vom Behandlungsstuhl, zog mich wieder an, ließ noch die Untersuchung zur Brustkrebsvorsorge über mich ergehen – eigentlich ein ziemlich schräger Zeitpunkt dafür – und bekam anschließend die drei möglichen Optionen erörtert: Abwarten, medikamentöser Abbruch, Ausschabung. Doch ich war gar nicht in der Lage, das Gesagte zu begreifen, geschweige denn eine Entscheidung zu treffen.

„Das kann nicht sein, das muss ein Irrtum sein“ – war alles, was ich denken konnte. Trotz Schockstarre bat ich nachdrücklich um einen zweiten Termin. Meine Frauenärztin betonte, sie sei sich sicher, was ihre Diagnose betraf, ließ sich aber dennoch darauf ein.

Die ersten zwei Tage durchlebte ich einen unfassbaren Schmerz, der sich nicht in Worte fassen lässt. Natürlich war mir bewusst gewesen, dass eine Fehlgeburt eine leidvolle Erfahrung ist, doch ehrlich gesagt hätte ich niemals im Leben mit einer solchen Intensität von Schmerz gerechnet. Ein existenzieller Schmerz, der Tränen wie eine Naturgewalt aus mir herausbrechen ließ.

Stunde um Stunde weinte ich. Ich war wütend auf meinen Körper, dass er mich so sehr getäuscht hatte. Ich war wütend über diese Ungerechtigkeit. Immer wieder tauchte in meinem Kopf die Frage auf: „Warum passiert das ausgerechnet mir?“

Neben all der Wut und Trauer war da aber auch immer ein winziger Hoffnungsschimmer.

Ich wollte nicht wahrhaben, dass mein Körpergefühl mich so sehr täuschen könnte. Ich fühlte mich doch schwanger. Das alles musste ein Irrtum sein. Ich begann, das Internet zu durchforsten, und verschlang haufenweise Erfahrungsberichte. Berichte von Frauen, die eine Fehlgeburt durchlebt hatten. Berichte über vermeintlich nicht intakte Schwangerschaften, die letztlich doch im Happy End mündeten. Berichte über Ausschabungen. Berichte über Einleitungen mit Cytotec. Mir wurde klar, ich brauchte eine zweite Meinung, um eine potentielle Fehldiagnose auszuschließen und die Situation akzeptieren zu können.

Drei Tage nach der Diagnose saß ich mit meinem Mann bei dem Gynäkologen, der unsere Tochter entbunden hatte. Die Praxis verfügte über deutlich bessere Gerätschaften, sodass selbst wir als Laien im Ultraschall eindeutig erkennen konnten: Das Kind in meinem Bauch trug kein Leben (mehr) in sich.

„Die Natur hat es selbst geregelt“ – „Vermutlich eine schwerwiegende Chromosomenstörung" – „Besser jetzt als später“ – „Versuchen Sie es weiter“ – all diese Sätze und Erklärungen halfen nicht, milderten nicht die Trauer. Doch die Gewissheit, dass es definitiv keine Hoffnung mehr gab, löste den Widerstand in mir und ich konnte beginnen, die Situation allmählich zu akzeptieren und mich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren.

„Es ist dein Körper, du entscheidest, ich gehe jeden Weg mit dir und werde dich unterstützen“ – versicherte mein Mann mir immer wieder. Mein Bauchgefühl in dieser Hinsicht war eigentlich von Anfang an eindeutig gewesen und verstärkte sich zunehmend, je mehr ich recherchierte. Mir war klar, eine Ausschabung würde ich unbedingt vermeiden wollen. Wochenlang abzuwarten, bis der Embryo von selbst abging, fühlte sich allerdings ebenfalls unvorstellbar an. Mein Körper war nach wie vor auf Schwangerschaft eingestellt, ich wollte dieses Gefühl mittlerweile nur noch loswerden.

Und so zeichnete sich die Entscheidung glasklar ab: Es sollte eine kleine Geburt mit medikamentöser Einleitung werden.

Zugegeben, ich hatte Angst – Angst vor dem Blutverlust, Angst vor starken Schmerzen, Angst davor, letztendlich doch noch zur Ausschabung zu müssen. Ich kontaktierte mehrere Hebammen, in der Hoffnung auf Beratung und Begleitung für die nächsten Tage.

Vier Tage nach der Diagnose nahm ich den vereinbarten Termin bei meiner Frauenärztin wahr. Neben einem letzten Ultraschallbild unseres Kindes bekam ich drei Tabletten Cytotec ausgehändigt. Noch am selben Tag – und ich hatte nicht allzu viele Hoffnungen in meine Anfragen gesetzt – hatten wir tatsächlich einen Gesprächstermin mit einer Hebamme. Nicht nur durch ihre Erfahrungen nahm sie mir etwas die Angst vor dem, was mich erwartete, sondern auch durch die Möglichkeit, sie während der nächsten Tage jederzeit kontaktieren zu können. Dieser Trumpf in der Hinterhand, zusammen mit der Unterstützung meines Mannes, gaben mir die nötige Sicherheit, die ich für den folgenden Tag brauchte.

Gegen 15 Uhr am nächsten Tag – fünf Tage waren nun seit der Diagnose vergangen – nahm ich die drei Tabletten Cytotec ein.

„Es wird weh tun“ – hatte die Hebamme prophezeit und sie behielt recht. Bereits eine Stunde nach der Einnahme begannen die Krämpfe, die sich von Stunde zu Stunde steigerten. Mal lag ich im Bett mit einer Wärmflasche im Rücken, mal lief ich gefühlte Kilometer durch die Wohnung. Mein Mann versorgte mich mit Tee und Snacks, stützte mich, wenn mein Kreislauf Probleme machte. Es war tatsächlich wie eine kleine Geburt. Die wehenartigen Schmerzen, die fortlaufend stärker wurden. Die ganze Atmosphäre. Immer wieder dachte ich an die Geburt unserer Tochter zurück. Manchmal musste ich weinen, manchmal meinem Galgenhumor freien Lauf lassen. Zwischendurch erbrach ich mich heftig, doch ansonsten blieben alle befürchteten Komplikationen aus.

Die Blutung war relativ schwach, die Schmerzen zwar heftig, aber mit Schmerzmitteln zu ertragen. Gegen 21:30 Uhr verlor ich Fruchtwasser, gegen 22:45 Uhr ging das erste große Stück Gewebe ab, eine Dreiviertelstunde später folgte das zweite. Kurz vor Mitternacht war ich dann praktisch schmerzfrei und unglaublich erleichtert. Die Schmerzen waren weg, ich hatte kaum Blut verloren, mein Körper hatte alles gut gemeistert. Ich hatte alles gut gemeistert.

Diese kleine Geburt in den eigenen vier Wänden erfüllte mich mit Stolz und gab mir ein Stück weit Vertrauen in meinen Körper zurück, nachdem er mich so sehr getäuscht hatte. Erschöpft fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Nach der großen Erleichterung in der Nacht über den erfolgreichen Abgang und das Abklingen der Schmerzen überfiel mich am nächsten Morgen eine große Leere und Traurigkeit. Ich war entkräftet und hatte das Gefühl, gerade wirklich eine Geburt hinter mich gebracht zu haben, doch da lag kein Säugling neben mir. Da war nur diese Leere, dieselbe Leere wie in meinem Bauch.

Etwa eine Woche später war ich bei meiner Frauenärztin zur Kontrolle.
„Haben Sie schon einen Mutterpass?“ – wurde ich am Empfang gefragt und brachte nichts weiter als ein „Ähm“ heraus – woraufhin beim Blick in die Unterlagen ein „Oh, Entschuldigung“ folgte. Im Wartezimmer dann frischgebackene Eltern mit einem Säugling. Krampfhaft starrte ich auf mein Handy und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Die körperlichen Schmerzen während der kleinen Geburt, aber auch die Nachwehen einige Tage danach, hatte ich gut überstanden. Die seelischen Schmerzen dauerten weitaus länger an. Zumindest brachte der Kontrolltermin jedoch die erhoffte Entwarnung. Die Gebärmutter sah gut aus, eine Ausschabung war nicht nötig. Diese Sorge konnte ich also abhaken.

„Warten Sie noch ein bis zwei Zyklen, dann können Sie wieder loslegen“ – ein gut gemeinter Rat, der Hoffnung schenken sollte, sich aber gleichzeitig wie ein schlechter Witz anfühlte.

Während ich diese Zeilen schreibe, ist es nun auf den Tag genau ein Monat her, seit ich die Diagnose Missed Abortion bekommen habe. Es wäre eine Lüge zu behaupten, es ginge mir gut und alles sei wieder wie vorher. Aber es geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich glaube, es gibt Wunden, die nie so richtig heilen, man gewöhnt sich bloß mit der Zeit an den Schmerz und lernt mit ihm zu leben.

Ich bin dankbar für unsere Tochter, die jeden Tag diese unglaubliche Lebensfreude versprüht. Dankbar bin ich auch für meinen Mann, der mir eine wirklich große Stütze in diesen dunklen Wochen war. Das Erlebte hat uns sehr zusammengeschweißt und unser Kinderwunsch ist ungebrochen. Dankbarkeit empfinde ich auch für all die Menschen in meinem Umfeld, die in dieser schweren Zeit an mich / uns gedacht haben. Keine Worte dieser Welt vermögen den Schmerz zu lindern, aber es tut gut, zu spüren, dass es Menschen gibt, die an einen denken.

Ich bin froh, den Weg der kleinen Geburt mit medikamentöser Einleitung gegangen zu sein. So konnte ich mich körperlich und seelisch in einem langsamen Prozess von unserem ungeborenen Kind verabschieden, gleichzeitig musste ich nicht wochenlang auf glühenden Kohlen sitzen und auf das Einsetzen von Blutungen warten. Für mich war das genau der richtige Weg. Dieser Weg muss nicht für jede Frau passen, aber ich möchte auf jeden Fall dazu ermutigen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen und sich zu nichts drängen zu lassen, wenn es medizinisch nicht unbedingt notwendig ist.

Das Ende vom Anfang – Aljona
Aljona (34)Softwareentwicklerin

Ich bin Buchstabenmalerin, Bloggerin, Mama, Woman in Tech und begeisterungsfähiger Tausendsassa mit Hang zur Nachtaktivität. Zusammen mit Ehemann und Tochter lebe ich im schönen Karlsruhe.

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