Linda (29)Beamtin

Meine eigene Geschichte

Linda erleidet einen Missed Abort. In ihrem Bericht beschreibt sie, wie sie damals das Gefühl hatte, dass etwas nicht in Ordnung war und wie sie zuhause den Embryo verlor, dessen Herz nicht mehr schlug, und wie sie danach einen Raum für all die Trauer schuf.

Ich wusste, dass Fehlgeburten häufig vorkommen. Glaubte, die Statistiken seien auf meiner Seite. Ich bin 29, gesund und mache regelmäßig Sport. Ich war problemlos im ersten Zyklus schwanger geworden. Überall las ich, dass das Fehlgeburten-Risiko ab 35 Jahren steigt. Den Satz meiner Frauenärztin beim ersten Termin in der 6. SSW „Lassen Sie es wachsen“ hatten mein Mann und ich noch als erleichternd empfunden. Nachdem wir beim zweiten Termin den Herzschlag gehört hatten, fühlte ich mich schon fast sicher. Statistisch gesehen lag das Risiko einer Fehlgeburt nur noch bei etwa 9 Prozent. Das klang für mich sehr niedrig. Was sollte jetzt noch passieren? Nach dem Vermessen des Embryos datierte die Ärztin ca. eine Woche zurück, da er kleiner war als er sein müsste. Eine Hypothese sei, dass die Zeugung einfach später stattgefunden habe. Das komme häufiger vor. Es sei jetzt abhängig vom Schicksal und andere Faktoren, die wir nicht beeinflussen könnten. Ich blendete die andere, unausgesprochene Hypothese komplett aus und fragte nicht weiter nach.

Unsere Bindung zu dem kleinen Wesen wurde seitdem immer stärker. Meine Hebamme sprach von unserem Baby statt von einem Embryo. Die darauffolgenden Wochen waren unfassbar schön. Wir erzählten unseren Familien und ich meinen engen Freundinnen von den Nachrichten. Doch während ich es erzählte, bekam ich manchmal das Gefühl, etwas auszulassen. Die andere mögliche Hypothese. Meine Übelkeit und Müdigkeit ließen langsam nach. Ich beobachtete, dass meine Brüste nicht mehr wehtaten und nicht weiter wuchsen. Innerlich fühlte ich mich unserem kleinen Wesen nicht mehr so verbunden. Ich sprach zwar noch zu ihm, aber ich spürte nicht mehr in mich hinein, während mir die Schwangerschafts-App Woche für Woche das Wachstum unseres Babys vorgaukelte.

Einerseits war ich in Gedanken schon bei der Pränataldiagnostik und überlegte mit meinem Mann, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Andererseits ahnte ich unterbewusst schon Schlimmes. Während des dritten Termins in der rechnerisch 11. bzw. 12. Woche wurde ich immer nervöser und stieß die Hand meines Mannes auf dem Untersuchungsstuhl weg. Beim Abtasten sagte meine Ärztin noch erfreut: „Alles prima, der Muttermund ist fest verschlossen!“ Sie hatte ein neues Ultraschallgerät, sodass alles etwas größer zu sehen war. Ich saß auf dem Stuhl und dachte noch „Es ist so groß geworden.“ Stille. „Es tut mir leid, es ist kein Herzschlag zu sehen. Der Embryo hat aufgehört, zu wachsen.“ Ich weinte laut, während meine Ärztin noch eine gefühlte Ewigkeit weiter schallte und vermaß. Ein würdeloser Moment, um eine Todesnachricht zu erhalten.

Im Nachhinein bin ich dankbar, dass ich mir dabei selbst ein Bild machen konnte. Man sah schon die Blutergüsse in der Gebärmutter, die darauf hindeuteten, dass bald eine Blutung kommen würde. Die Ärztin ging in das Besprechungszimmer und schloss die Tür, sodass wir einen kleinen Moment alleine hatten. Wir umarmten uns. Die Diagnose: Der Embryo hatte in der 7+1 SSW kurz nach dem zweiten Termin aufgehört zu leben: „missed abortion“. Ich hatte das noch nie zuvor gehört. Die Ärztin klärte mich über die drei Möglichkeiten auf: eine Kürretage (Aussaugung), die medikamentöse Einleitung oder das Abwarten. Sie sagte, es gäbe keine Eile, ich könne das Wochenende überlegen und nochmal in die Praxis kommen, um darüber zu sprechen. Für mich aber war die Vorstellung, weiter mit dem toten Embryo in mir abzuwarten, unvorstellbar.

Ich wollte der Situation entkommen, in die mich mein Körper gebracht hatte und die ich nun nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich bat um eine Überweisung für die Kürretage. Meine Ärztin gab mir Kontaktdaten von drei Frauenkliniken in der Stadt. Sie sagte: „Gehen Sie nicht ins Krankenhaus, dort werden Sie schlecht behandelt.“ Man müsse gegebenfalls Stunden auf die OP warten, wenn vorher Notfälle reinkämen. Sie klärte mich auch auf, dass es sein könnte, dass mein Körper schon vorher den Abort einleitet. Wenn die Blutungen zu stark würden oder ich Fieber bekäme, solle ich ins Krankenhaus fahren. Sie gab mir direkt eine Krankschreibung mit, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Ich sah ihr an, dass auch sie mitfühlte. Sie fragte, ob wir es schon jemandem erzählt hatten. Als wir dies bejahten, sagte sie „Das ist gut, dann haben Sie Menschen, die sie auffangen können.“

Die Praxis war zum Glück leer, als wir hinausgingen. Zuhause lagen wir uns in den Armen und weinten. Ich legte mich in das dunkle Schlafzimmer und erbrach mich immer wieder in einen Eimer. Einen Tag später hatte die Praxis geschlossen, es war Freitag. Ich rief bei der Frauenklinik an. Der nächste Termin für die Kürretage war genau eine Woche später. Eine ganze Woche warten würde ich nicht aushalten. Ich bat meinen Mann, bei der Vertretungspraxis anzurufen, um die Tabletten für die medikamentöse Einleitung zu holen. Dort wurde ihm telefonisch gesagt: „So etwas machen wir nicht.“ Wir fühlten uns, als würden wir etwas Illegales verlangen. Im Krankenhaus war niemand auf der gynäkologischen Station erreichbar und unsere Ärztin hatte uns ja davor gewarnt. Also versuchten wir es nicht weiter.

Nachts lag ich wach und setzte mich ins Wohnzimmer, um zu googeln. War ich doch schuld an der Fehlgeburt? Hatte ich zu viel Stress bei der Arbeit gehabt? Wieso hatte mich mein Körper im Stich gelassen? Ich war immer davon ausgegangen, man würde eine Fehlgeburt durch die Schmerzen und Blutungen sofort bemerken. Ich las viele Berichte, bis ich verstand, dass ich nicht schuld war. Ich war trotzdem wütend auf meinen Körper und auf die Ärztin, die die Hypothese, dass der Embryo sich nicht richtig weiterentwickelt, nie verbalisiert hat. Zwischendurch hatten wir das Gefühl, sie hätte uns in unserer Naivität mit ihrer Zuversicht ins offene Messer laufen lassen. Wir waren wütend, weil wir uns so ohnmächtig fühlten.

Am Samstag saßen wir beim Bäcker, während ich Unterleibsschmerzen wie vor dem Einsetzen der Periode bekam. Ich ahnte, dass die Fehlgeburt spätestens am Sonntag vorüber sein würde. Die ersten Tage hatte ich das Gefühl, mein Mann würde intensiver trauern als ich. Ich war eher mit dem Körperlichen beschäftigt, hatte aber auch einen anderen Zugang zu meiner Trauer. Der Ärztin hatte ich noch tapfer gesagt: „Ich habe schon Schlimmeres überlebt, ich stehe das hier auch durch.“ Über diesen Satz habe ich lange nachgedacht. Es ist, als hätte ich ihn mir schon vorher als Schutzschirm zurechtgelegt. Durch den Suizid meiner älteren Schwester vor 11 Jahren war ich mit Trauma, Schuldgefühlen und gesellschaftlich tabuisierter Trauer vertraut. Ich dachte, mir könne nichts Schlimmeres im Leben widerfahren. Ich glaube, das Gehirn versucht immer, neue Situationen einzuordnen und vergleicht diese deshalb miteinander. Mittlerweile denke ich, dass es mir noch nie schlechter ging als nach der Fehlgeburt. Die Trauer ist genauso intensiv wie damals. Es betrifft mich persönlich, meinen eigenen Körper. Mit unserem ersten Kind ist auch ein Teil unserer Zukunft und viel Hoffnung gestorben. Ich hatte mich mit der Schwangerschaft für das Leben entschieden und das Leben wiederum hat sich nicht erzwingen lassen.

Unsere Hebamme gab meinem Mann telefonisch den Tipp, dass Ingwertee wehenfördernd sei. Am Sonntag bekam ich meine erste kleine Wehe. Ich googelte noch, wie sich der Schmerz veratmen lässt. Ich hatte mir eine Schüssel in die Toilette gelegt, um den Embryo aufzufangen. Nach der ersten Wehe kamen Gewebereste und, da war ich mir sicher, unser Embryo, so klein wie ein Daumennagel, heraus. Ich meinte, sein kleines Gesicht und die Arme zu sehen. Die Beinchen waren nicht so ausgeprägt. Ich schlug ihn in ein Stofftaschentuch ein. Ungefähr 10 Minuten später kam die zweite, große Wehe. Sie dauerte bestimmt 10 Minuten. Ich legte mich ins Bett. Mein ganzes Ich kehrte sich nach innen. Mir war so kalt und ich habe überall am Körper geschwitzt. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich kann es nur mit dem Beginn einer schlimmen Migräneattacke vergleichen. Mein Mann stand hilflos neben mir, konnte die Hebamme nicht erreichen. Er fragte, ob er einen Krankenwagen rufen solle. Ich dachte an die Worte meiner Ärztin und sagte nein. Es sollte niemand Fremdes dazu gerufen werden. Ich spürte, dass ich auf Toilette musste.

Dort kam völlig schmerzfrei mit einem „Flutsch“ plötzlich alles raus, Gewebe und Fruchthöhle in der Größe einer geballten Hand. Das hat mich so schockiert, dass ich kurz aufgeschrien habe. Für meinen Mann war das wohl der schlimmste Moment. Ich sah die Fruchthöhle in der Toilette, berührte sie und konnte mich doch nicht durchringen, sie herauszuholen. Ich war so erschöpft, spülte alles hinunter. Danach bekam ich Zweifel, ob der Embryo vielleicht noch in der Fruchthöhle gewesen war. Aber mein Instinkt hatte mich während der Fehlgeburt zu keiner Zeit getäuscht. Nach der ersten Wehe wusste ich, dass noch nicht alles raus war und nach der zweiten Wehe war mir klar, dass es das gewesen sein musste. Zurück im Bett lächelte ich vor Erleichterung. Ich hatte es alleine geschafft!

Die Blutungen und die Schmerzen waren komplett verschwunden. Ich wusste, dass alles abgegangen war. Die Hebamme rief mich danach zurück und fragte auch, ob ich gut behandelt worden wäre. Ich verstand erst nicht, dass sie meine Frauenärztin meinte und dass ihre empathische Reaktion und gute Aufklärung nicht selbstverständlich sind. Die weiße Kerze, die wir am Samstag angezündet hatten, war nun fast niedergebrannt. Den kleinen Embryo legte ich in eine bunte Schachtel. Ich kontaktierte ich den Friedhof, der Sternenkinder unter 500 Gramm kostenlos auf einem Sternenkindergrabfeld erdbestattet. Wir hatten nun also auch ein Sternenkind. Ich schämte mich richtig, dass wir mit unserem kleinen Embryo so ein Angebot in Anspruch nahmen. Er war doch so klein und es passierte so vielen Frauen. Und vielleicht hatte ich den Embryo doch die Toilette hinuntergespült?

Ich musste für mich erst verstehen, dass unsere Trauer genauso legitim ist wie die Trauer später verstorbener Sternenkinder. Die Mitarbeiter des Friedhofes machten jedenfalls keinen Unterschied und wir bestatteten unser erstes Kind (oder was ich für unser Kind hielt) würdevoll, wie einen richtigen Menschen. Eine Woche später hatte jemand eine Muschel auf das Grab gesteckt. Das hat mich unfassbar gerührt. Als würde jemand uns und unser Kind willkommen heißen. Unser Weg fühlte sich nun richtig an. Wir haben nun einen liebevollen Ort zum Trauern. Bei dem Verein „Handgemachtes für Sternenkinder und Frühchen e.V.“ bestellte ich Wochen später eine Trostbox mit dem Namen unseres Sternenkindes auf einem selbstgenähten Bären.

Die ersten Wochen waren hart, auch für unsere Beziehung. Ich hatte das Gefühl, dass mein Mann mich beim Trauern „überholt“ hätte. Er ging nach einer Woche Krankschreibung wieder zur Arbeit und konnte sich gut darauf konzentrieren. Ich war knapp zwei Wochen krankgeschrieben und wollte ununterbrochen über das Geschehene reden. Zwischendurch wünschte ich mir, dass es ihm wieder schlechter ginge, damit wir wieder gemeinsam trauerten. Je aktiver und aggressiver ich das Thema ansprach, desto passiver wurde er. Inzwischen habe ich akzeptiert, dass er anders trauert als ich, aber nicht weniger. Wir reden nach wie vor sehr viel darüber und ich akzeptiere, wenn es ihm zu viel wird. Ich frage ihn dann meistens, ob er mich in den Arm nehmen kann.

Die Ärztin bestätigte mir eine Woche nach der Fehlgeburt per Ultraschall, dass alles abgegangen war. Der HCG-Wert war stark gefallen. Meine Periode bekam ich vier Wochen später. Während der Fehlgeburt selbst hatte ich weniger geblutet als gewöhnlich während meiner Menstruation. Nun blutete ich viel stärker, was ich aber auch erwartet hatte. Mein Zyklus hatte sich trotz Schwangerschaft nicht wirklich verschoben. Die Fehlgeburt hatte in dem Zeitraum begonnen, in dem meine Periode gekommen wäre, wenn ich nicht schwanger geworden wäre.

Die Fehlgeburt ist nun sieben Wochen her. Manchmal denke ich, ich hätte alles gut verarbeitet. Am Tag darauf fühle ich mich, als würde ich mich auflösen. Ich spreche das Thema mit meinem Mann täglich an und drehe mich gedanklich im Kreis. Ich habe mir psychologische Hilfe gesucht. Ich erzähle meine Freundinnen offen über die Fehlgeburt, die meiner Meinung nach eher Kleine Geburt genannt werden sollte. Weil ich weiß, dass es hilft, wenn andere Frauen dieses Wissen haben und nicht abhängig sind von dem Kenntnisstand und der persönlichen Meinung ihres Gynäkologen. Ich selbst hatte viel Glück. Aber ich frage mich schon: Warum liegen in meiner Frauenarztpraxis ausschließlich Flyer mit glücklich runden Schwangeren aus? Wo sind die Flyer für Fehlgeburten, die so viele betreffen?

Mittlerweile weiß ich, dass mein Körper mich nie getäuscht hat. Mein Körper wollte überleben und hat mir das Geschenk gemacht, eine Schwangerschaft zu beenden, die im schlimmsten Fall zehn Monate Kraft gekostet und kein lebendes Kind hervorgebracht hätte. Er hat die Fehlgeburt nicht verpasst, so wie die Diagnose „Missed abortion“ suggeriert. Unser Wissen durch den Ultraschall war vorzeitig. Mein Körper hat die kleine Geburt in seinem eigenen Tempo eingeleitet, erfolgreich beendet und mir dadurch eine Kürretage erspart. Im Endeffekt bin ich froh, dass ich das Wissen über unser totes Kind nicht noch früher hatte.

Bevor ich schwanger geworden war, hatte ich mit meiner Ärztin darüber gesprochen, dass es für mich emotional keinen Weg zurückgäbe, sobald wir probieren würden, schwanger zu werden. Ich hatte im Familienumfeld von mehreren Fehlgeburten gehört. Die Frauenärztin sagte etwas, das sehr lange in mir resonierte: „Diese Geschichten sind nicht Ihre Geschichte. Es kann bei Ihnen auch alles gut gehen.“ Es ist für mich nicht alles gut gegangen. Jede Geschichte ist anders. Ich bereue nicht, schwanger geworden zu sein und nun meine eigene Geschichte zu erzählen, denn sie verbindet mich mit so vielen Frauen. Sie hat mich zu einer anderen Frau gemacht und mir viel Vertrauen in meinen Körper geschenkt. Mein Mann und ich haben uns erneut für das Leben entschieden. Ich bin voller Angst, aber auch Hoffnung, dass wir irgendwann ein Kind in den Armen halten werden. Unser erstes Kind wird uns für immer im Herzen begleiten.

Das Ende vom Anfang – Linda
Linda (29)Beamtin

ich heiße Linda, ich bin 29 Jahre alt und Beamtin. Ich gehe gerne in der Natur spazieren und liebe es, zu tanzen, am liebsten Standard- und Latein mit meinem Mann.

Vorheriger Bericht Lisa (25)

Ein kleiner Schrimp mit Augen

Am 04.11.2024 veröffentlicht.