Nicole (40)Industriekauffrau

"Ohne Betreff"

Nach ihrer Fehlgeburt, saß Nicole mit ihren Freundinnen in der Kneipe und überlegte, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Jetzt erzählt sie hier ihre Geschichte, die eine unerwartete Wendung nahm.

Als erstes bin ich tatsächlich über den Betreff der E-Mail mit meiner Geschichte gestolpert. Was soll ich auch schreiben? "Der Tod meiner Kinder" ist irgendwie unpassend.

Vorab möchte ich sagen, ich gehöre zu den Frauen, die offen über Fehlgeburten, Fruchtwasseruntersuchungen und dergleichen reden können, und es erstaunt mich immer wieder, wie oft die Antwort "Ich auch" war.

In meinem Fall war der Grund die Schwangerschaften nicht offiziell zu thematisieren, nur ein beruflicher. Mit Kinderwunsch befindet man sich schnell auf dem Abstellgleis.

Im Sommer 2016 beschlossen wir, die Pille abzusetzen. Ich war damals zarte 38 Jahre alt und vermutete, dass es nach über 20 Jahren "Pille" vermutlich eine Ewigkeit dauern würde. Im August nahm ich also die letzte Pille und im November war ich überfällig. Konnte das sein? So schnell? Wie zuverlässig war mein Zyklus? Der Schwangerschaftstest schrie POSITIV! Da ich zwei Wochen später sowieso einen Termin zur Krebsvorsorge hatte, habe ich dann auch einfach abgewartet.

Meine Gynäkologin bestätigte nur, was ich bereits wusste: "Schwanger in der siebten Woche. Herzschlag. Alles gut." Ich war überglücklich und schwebte aus der Praxis. Weihnachten und Neujahr zogen an uns vorbei, wir feierten ohne Alkohol und Zigaretten, ich informierte meine Freunde.

Am 5. Januar hatten wir den nächsten Termin zum Ultraschall. Zwölfte Woche, ich wartete eigentlich nur auf die Bestätigung, dass alles in Ordnung ist. Ich wollte am nächsten Tag meine Kollegen informieren und sagen, dass ich ab Juli indisponiert bin. Entsprechend großzügig hatte ich mich auch schon bei der Urlaubsplanung gezeigt. Mein Partner ist dieses Mal mit dabei, er sollte das Gummibärchen schließlich auch bestaunen.

Ich war 38 Jahre alt, war nach zwei Zyklen schwanger geworden, mir war nicht übel, ich hatte keinerlei Beschwerden. Kurzum: Ich schwang meinen überheblichen Hintern ziemlich beschwingt auf den Stuhl. Lasst den Ultraschall beginnen.

Meine Frauenärztin schallt, ich gucke stolz auf den Bildschirm, sie schweigt, ich gucke vorsichtig meinen Mann an, sie schluckt hörbar, ich sage: " Nicht gut?!" Sie schüttelt den Kopf: kein Herzschlag. 12. Woche. Missed Abortion.

Sie bittet uns ins Nebenzimmer. Ich erfahre, dass ich die Zweite bin an diesem Tag. "Scheißjob", denke ich. Da ich schon bei "11+4" bin, schickt sie mich auf direktem Weg ins Krankenhaus, ruft sogar schon dort an. Ich halte eine Überweisung und eine Krankschreibung für acht Tage in der Hand, als ich die Praxis verlasse. Im Auto rufe ich meine Eltern an und schreibe meinem Chef irgendwas von Frauenproblemen.

Im Krankenhaus geraten wir eine blutjunge Ärztin. Diese muss den Tod des Kindes noch einmal bestätigen. Also Ultraschall, die zweite. Meinen Mann bittet sie, auf einem Stuhl am Ende des Raumes Platz zunehmen, weit weg von mir. Dabei brauche ich gerade ganz dringend seine Hand auf meiner. Sie fragt, ob ich beim Ultraschall mitgucken möchte. Bitte was?! Nein, was sollte das bringen?

Ich heule und verstehe eigentlich kein Wort, von dem was sie mir erklärt. Jedenfalls muss die Ausschabung am nächsten Tag gemacht werden. Wir fahren schweigend nach Hause, ich zünde mir eine Zigarette an und trinke ein Glas Wein.

Mein Mann sagt, dass Ärzte mal ein Semester Psychologie studieren sollten. Ich muss schief grinsen. Schlafen kann ich nicht. Heilige Drei Könige: Ich werde operiert. Erst gibt es ein Zäpfchen, ich weine schon wieder. Im OP heule ich dann Rotz und Wasser. Dabei ist das Schlimmste ja schon längst passiert, was folgt ist nur noch die Beseitigung der Spuren. Die Ärztin sagt, ich soll mir keine Sorgen machen, das wäre ein Routineeingriff. "Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht routiniert im Kind verlieren bin", denke ich. Die OP-Schwester hingegen ist der erste Mensch, der mir im Krankenhaus begegnet, der einfühlsam ist: Sie umarmt mich und sagt, sie weiß, wie ich mich fühle. Ihre Schwiegertochter ist in dergleichen Situation.

Als ich aufwache ist es nicht vorbei. Ich trage eine dicke Einlage und watschele hinter einer Krankenschwester her in Richtung Oberärztin, die meine Entlassung abzeichnen soll. Endlich angekommen, übergebe ich ihr die Papiere. Sie ist eine Frau von etwa 50 Jahren und hat etwas Militärisches an sich. Stechschritt und strenger Blick. Sie liest sich kurz ein, blickt auf uns sagt: "Mist, ich hatte drei und ich habe zwei gesunde Kinder." Da denke ich das erste Mal: Es trifft auch andere. Zuhause recherchiere ich, ich brauche eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.

Als ich bei der Nachkontrolle frage, was der Embryo hatte, heißt es, man geht der Ursache erst ab dem dritten Mal auf den Grund. Drei Mal? Wer hält das aus! Ich leide. Wenn ich nicht arbeite, weine ich. Ich trauere um das Kind und ich trauere um das gemeinsame Leben, das wir nicht haben werden. Karneval verziehe ich mich an die Nordsee.

Im April holt der Alltag mich langsam wieder ein. Ich fühle mich normal, ich habe meinem Körper verziehen und denke, das Kind war vermutlich schwerkrank.

Außerdem hat mein Mann etwas Schönes gelesen. Ich bin eigentlich nicht esoterisch angehaucht, aber es hilft: "Die kleine Seele wartet einfach auf ein schöneres Wohnzimmer." So lange mir niemand das Gegenteil beweist, bleibe ich dabei.

Ende April ist mir dauerhaft schlecht. Ich schiebe es auf den emotionalen Stress. Am 1. Mai teste ich: Positiv. Ich gehe wie auf Wolken zur Arbeit. Drei Tage bin ich der glücklichste Mensch auf Erden. Dann im Büro - zwischen Kaffee, Wurstbrot und dummen Gesprächen - merke ich, dass irgendwas nicht stimmt. Ich schleiche aus unserem Büro zur Toilette.

Blut im Slip. Ich hocke mich aufs Klo und überlege fieberhaft, ob das irgendwas zu bedeuten hat, oder ob es sich um eine einfache Schmierblutung handelt.

Auf einmal explodiere ich wie eine Wasserbombe: Die ganze Schüssel unter mir ist voller Blut. Ich muss erst mal alles säubern. Als ich zurück in unser Büro komme, muss ich erst mal meine Kollegin um eine Binde bitten. Da mal wieder niemand was von meiner Schwangerschaft weiß, erzähle ich, dass mir eine Zyste geplatzt ist und fahre zum Arzt.

Irgendwie bin ich einerseits traurig, aber anderseits denke ich, dass mein Körper es dieses Mal geregelt bekommen hat und das Kind ohne Ausschabung abgegangen ist. Mir wird Blut abgenommen, ich muss in der fünften Woche sein, auf dem Ultraschall sieht man nur Blut. Ich soll in einer Woche wiederkommen. Meine Ärztin möchte sich nicht äußern, sie hätte schon Blut in Schuhen stehen gesehen und die Kinder lebten, sagt sie.

Eine Woche später: Der Schallkopf wird angesetzt. Ich hoffe, dass ich wirklich keine Ausschabung benötige.

Meine Gynäkologin nickt, lacht und schaut mich an: "Von meiner Seite aus geht die Schwangerschaft weiter, wir haben hier eine Fruchthöhle, die voller Blut ist und hier haben wir eine vollkommen Intakte mit Dottersack. Wir kontrollieren das jetzt wöchentlich."

Ich hatte also einen Zwilling verloren.

Ich denke einfach, ich sollte 2017 Mama werden und ich wurde es nicht im Juli, dafür im Dezember. Und hätte ich die Fehlgeburt nicht gehabt, hätte ich meinen Sohn nicht und ich glaube, genau er sollte mein Kind werden.

Klar denke ich noch an mein erstes Kind. Ich habe sein Herz schlagen sehen, also war es mein Kind, es hat gelebt, aber es frisst mich nicht mehr auf.

Ich benutze seinen errechneten Geburtstermin beim Eurojackpot, ich zünde am Tag der Ausschabung und am vermeintlichen Geburtstag eine Kerze an, aber es ist jetzt in Ordnung.

Das Problem ist immer, was wäre gewesen, wenn es kein weiteres Kind gegeben hätte? Wäre ich dann weiterhin untröstlich? Was ist mit den Frauen, die zu guter Letzt doch kein Baby im Arm halten dürfen? Um ehrlich zu sein, hat mich nämlich nur die neue gute Hoffnung aus dem Tal der Tränen geholt. Aber vielleicht würde ich dann jetzt einfach Porsche Cabrio fahren und hätte einen schokobraunen Labrador wer weiß das schon...

Das Ende vom Anfang – Nicole
Nicole (40)Industriekauffrau

Ich heiße Nicole, bin 40 Jahre alt und Industriekauffrau. Wenn ich meinen Sohn anschaue, denke ich, dass alles vorbestimmt war. Hätten wir das erste Kind bekommen, würde es ihn nicht geben, und er ist so ein besonderer kleiner Mensch. Trotzdem erlaube ich mir die Sentimentalität, am errechneten Geburtstermin eine Kerze anzuzünden.

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Interview: "Man erzielt lieber Erfolgsgeschichten."

Am 01.10.2018 veröffentlicht.
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Am 01.01.2019 veröffentlicht.