Vivien (30)Sozialarbeiterin

12 Monate zwischen größter Trauer und unfassbarem Glück.

Vivien schildert hier die Geschichte ihrer frühen Fehlgeburt und der darauffolgenden Ausschabung, und wie sie in der Klinik bei einer Leidensgenossin kurz Halt fand.

Im Januar 2020 stellte ich überraschend fest, dass ich schwanger bin. Es war nicht geplant und auch der Zeitpunkt war beruflich gesehen ungünstig, aber die Freude beim werdenden Papa und mir überwog natürlich. Ein September-Baby sollte es werden. Wir wohnten zwar noch nicht zusammen, aber ein Umzug zu ihm war eh geplant und irgendwie würde man das alles schon hinbekommen, auch mit Babybauch.

In der 6. SSW war ich beim Frauenarzt, um die Schwangerschaft bestätigt zu wissen. Betrübt und ohne Ultraschallbild verließ ich die Praxis. Eine Fruchthöhle war zwar im Ultraschall feststellbar, aber sie war für die errechnete SSW zu klein und ein Embryo noch nicht zu sehen. Ich sollte in zwei Wochen wieder kommen. Nach dem Besuch weinte ich das erste Mal. Was, wenn es ein Windei war? Positiv zu denken war leider noch nie meine Stärke.

Zwei Wochen später war in der Fruchthöhle dann endlich ein kleiner zarter Ring zu erkennen. Ein Herzschlag war noch nicht zu sehen, aber die Frauenärztin blieb positiv: In zwei Wochen könne man auch diesen sicher erkennen. Eigentlich wollte ich meine Schwangerschaft ganz klassisch erst nach der 12. SSW verkünden. Aber aufgrund der quälenden Ungewissheit vertraute ich mich bereits nach dem 1. Termin meinen Eltern an. Meine Freude über das Ergebnis des 2. Termins teilte ich auch mit ihnen. Mein Vater hatte Tränen in den Augen, als ich ihm das Ultraschallbild vom 2. Termin zeigte. Da wussten wir noch nicht, dass es das einzige Ultraschallbild sein sollte, dass mir von meiner ersten Schwangerschaft blieb.

Zum 3. Termin in der 11. SSW begleitete mich der werdende Papa. Mein großer Wunsch für diesen Termin: „Herzlichen Glückwunsch! Das Herz ihres Kindes schlägt. Sie werden im September Eltern. Hier ist ihr Mutterpass.“ Doch es sollte anders kommen. Der Frauenarzt schallte, schwieg und kurze Zeit später sagte er mit ruhiger Stimme: „Frau …, kommen Sie mal bitte vom Stuhl runter.“

Ich verließ die Praxis mit einer Überweisung für die Ausschabung. Im Auto realisierte ich erst, was da gerade passiert war und weinte. Der Traum von unserem September-Baby war gestorben.

Schon am nächsten Tag saß ich zur OP-Planung im Krankenhaus. Schwangere, die mit ihren kugelrunden Bäuchen an mir vorbeiliefen, entfachten in mir unsägliche Wut. Wieso sie und nicht ich?! Dem Arzt, der mich nochmal untersuchte, um die „Missed Abortion“ zu bestätigen, sollte ich fast ein Jahr später wieder begegnen. Nur wusste ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht. Was ich wusste war, dass ich vorerst kein Kind mehr wollte und dass ich niemals ein Kind in dieser Klinik gebären würde. Nicht an dem Ort, wo mir mein erstes Kind „rausgekratzt“ wurde.

Am Tag der Ausschabung fuhr mich mein Mann ins Krankenhaus. Im Wartezimmer saß die Frau, die schon zur OP-Planung mit mir im Wartebereich saß. Ohne miteinander gesprochen zu haben, wussten wir beide, warum die jeweils andere hier war und nickten uns stumm zu. Auch sie wartete mit ihrem Mann und versuchte wie ich, tapfer zu wirken. Im Wartebereich nahm ein drittes Paar Platz und ihnen war der Schock und die Trauer richtig anzusehen. Am liebsten hätte ich diese zwei Frauen in den Arm genommen und ihnen gesagt, dass ich genauso fühle wie sie, aber wir alle schwiegen trauernd vor uns hin.

Im OP-Hemdchen wartete ich auf meine Ausschabung. Neben mir war wieder die Frau aus dem Wartebereich. Sie war vor mir dran. Als sie nach einer Viertelstunde aus dem OP gefahren wurde, fragte sie, noch benebelt von ihrer Vollnarkose, nach ihrem Baby. „Mein Baby ist weg!“, schluchzte sie neben mir. Ihre Verzweiflung in dem Moment rührt mich noch heute zu Tränen. Als ich sie weinen hörte, brachen auch bei mir alle Dämme. Noch nie zuvor hatte ich in meinem Leben so eine Trauer, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit gespürt.

Ich weinte stumm vor mich hin und starrte die Decke an, als ich in den OP geschoben wurde. Ich sehe noch die metallischen Beinhalterungen vor mir und dann war ich weg.

Kaum zurück im Aufwachraum und noch völlig benommen von der OP, wollte ich den Vorhang zu meiner Bettnachbarin zur Seite schieben lassen, um mit ihr zu sprechen. Judith und ich sprachen miteinander, als ich wieder richtig bei mir war. Auch für sie war es die erste Fehlgeburt und Ausschabung. Wir erzählten der jeweils anderen unsere Geschichte und weinten und trauerten zusammen und halfen uns so gegenseitig über die quälende Wartezeit hinweg, bis wir nach Hause entlassen wurden. Nach der Entlassung wünschten wir uns noch alles Gute für die Zukunft und gingen unserer Wege. Liebe Judith, ich denke noch heute an dich und danke dir dafür, dass du mich in diesem dunklen Tal kurz bei der Hand genommen hast, damit ich mich nicht komplett verloren gefühlt habe!

Am schlimmsten war der Tag nach der Ausschabung. Nichts machte Sinn. Alles war scheiße und Floskeln wie „Alles wird wieder gut!“, lösten erneut unfassbare Wut in mir aus. Ich wollte einfach nur allein sein, mich verkriechen, weinen, in Selbstmitleid zerfließen und keine „aufmunternden“ Floskeln hören. Mein Mann akzeptierte meinen Wunsch, so zu trauern und tat das einzig richtige: Er hielt mich im Arm, sagte nichts und weinte mit mir.

Kurz nach meiner Ausschabung nahm die Corona-Pandemie ihren Lauf und im größten Chaos übernahm ich wie geplant die Leitung unserer Kindertagesstätte. Ich zog mit meinem Mann zusammen und spürte kurze Zeit später, dass ich wieder schwanger war.

Am 2. März 2020 erfuhr ich von meiner Fehlgeburt. Ein Jahr später, am 1. März 2021, brachte ich meine wundervolle Tochter gesund in eben dieser Klinik zur Welt und wurde von dem Arzt beglückwünscht, der die OP-Planung zur Ausschabung damals vorgenommen hatte. 12 Monate zwischen größter Trauer und unfassbarem Glück und Dankbarkeit!

Das Ende vom Anfang – Vivien
Vivien (30)Sozialarbeiterin

Vivien, 30 Jahre alt, derzeit in Elternzeit und stolze Mama einer Tochter

Vorheriger Bericht Anke (33)

Der Verlust von Schwangerschaft und Lebensenergie

Am 03.02.2022 veröffentlicht.
Nächster Bericht Stefanie (38)

Andere Kinder lernen laufen. Unser Baby fliegen.

Am 22.07.2022 veröffentlicht.